Wo kommen Zukunftsvisionen eigentlich her, welche werden Realität,
und wie beeinflussen sie das Leben von Menschen? Wissenschaftliche
Foresight-Methoden lassen sich auch auf Science-Fiction anwenden,
um zukünftige Entwicklungen zu antizipieren und nachzuvollziehen,
wie neue Technologien entstanden sind.
Lesezeit: 7 Minuten
Die TV-Serie „Star Trek“ inspirierte Ende der 1960er Jahre Techniker von Motorola bei der Entwicklung des ersten Mobiltelefons. Bekannt wurde das Gerät unter dem Spitznamen „The Brick“ (der Backstein), weil es schwer und klobig war. Erst mit der Zeit wurden Mobiltelefone leichter und kompakter. Motorola bediente sich nicht nur hinsichtlich des Konzepts für sein mobiles Kommunikationsgerät bei „Star Trek“, sondern auch in Bezug auf Design und Narrativ.
Science-Fiction kann also Realität werden. Sie hat in der Vergangenheit neue Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle inspiriert; im Silicon Valley finden wir viele Beispiele dafür, von mobilen Geräten über Autos und Scooter bis hin zu Raumfähren. Science-Fiction beeinflusst Menschen, Gesellschaften und Märkte auf der ganzen Welt.
Die kulturellen Narrative von Produkten beeinflussen auch unsere Einstellungen und Überzeugungen. Beispielsweise formten die James-Bond-Filme die öffentliche Wahrnehmung des MI6. Der britische Auslandsgeheimdienst wurde überschwemmt von Bewerbungen von Menschen, die wie der berühmte Agent sein wollten. Der MI6 sah sich schließlich gezwungen, das fiktive Bild in einer PR-Kampagne zu korrigieren.
„Science-Fiction kann also
Realität werden. Sie hat
in der Vergangenheit
neue Produkte, Dienstleistungen
und Geschäftsmodelle inspiriert.“
In einer unsicheren Welt agil sein
Die Welt, in der wir leben, ist flüchtig, ungewiss, komplex und mehrdeutig – Eigenschaften, die in dem englischen Fachbegriff VUCA zusammengefasst sind, der für „volatility“, „uncertainty“, „complexity“ und „ambiguity“ steht. Der Krieg in der Ukraine, die COVID-19-Pandemie und andere Krisen unterstreichen, was offensichtlich ist: Die Zukunft wird sehr wahrscheinlich völlig anders aussehen als die Vergangenheit und die Gegenwart. Angesichts einer zunehmend VUCA-lastigen Welt setzen sich Manager und Berater für ein Umdenken ein: weniger Strategieentwicklung, mehr Agilität.
Es mag intuitiv falsch klingen, aber gerade in Zeiten multipler Krisen, wie wir sie derzeit erleben, sind langfristige Strategien äußerst wichtig. Unternehmen müssen nicht nur auf Veränderungen reagieren, sondern auch nachhaltige Perspektiven und Leitlinien entwickeln, die sie mit Bedacht umsetzen, bewerten und anpassen. Während eine verbreitete Auffassung davon ausgeht, dass sich Innovationen und Krisen schlagartig beschleunigen, zeichnet die Forschung ein anderes Bild: Megatrends wie Digitalisierung, künstliche Intelligenz und Klimawandel gibt es seit Jahrzehnten.
„Wir überschätzen immer die Veränderungen, die in den nächsten zwei Jahren eintreten, und unterschätzen zugleich jene in den nächsten zehn Jahren. Lassen Sie sich nicht zur Untätigkeit verleiten“, schrieb Bill Gates 1996.
Die letzten beiden Jahrzehnte waren tatsächlich dramatisch. Die Herausforderung besteht jetzt darin, die für Ihr Fachgebiet relevante Zukunft zu antizipieren und sich auf die sich immer schneller vollziehenden Entwicklungen vorzubereiten, zu handeln und angemessen zu reagieren. Aber wie können wir die Zukunft antizipieren, wenn sich alles ständig ändert?
Mit Foresight-Forschung den beschleunigten Wandel meistern
Hier kommen Foresight-Methoden ins Spiel. Sobald wir anfangen, über eine langfristige Investition nachzudenken (egal ob ein Forschungs- und Entwicklungsprojekt oder der Bau von Infrastruktur), beginnen wir die Zukunft zu antizipieren. In den vergangenen Jahrzehnten ist mit der datenbasierten Zukunftsforschung ein neues Wissenschaftsfeld entstanden. Es unterstützt Organisationen und Unternehmen dabei, Megatrends zu antizipieren, die den mehrdimensionalen Wandel in Gesellschaften, Ökosystemen und Märkten antreiben. Wissenschaftliche Foresight-Methoden bieten praktische Werkzeuge, um Trends und Szenarien, die in Zukunft entstehen könnten, zu erkennen – und zu verstehen, was sie für die eigene Organisation bedeuten.
Wir können nur dann erfolgreich mit Foresight-Methoden arbeiten, wenn es gelingt, Menschen dazu zu bringen, Situationen neu zu analysieren und gewohnte Annahmen infrage zu stellen. Ehrlich gesagt ist das eine Herausforderung für sich. Science-Fiction kann hier weiterhelfen und wird zunehmend für die Zukunftsforschung genutzt. Weltweit berichten Unternehmen wie Intel, Audi, SAP und die Telekom, dass sie sich von Science-Fiction inspirieren lassen, um Innovationen genauso wie Ideen für die ferne Zukunft zu entwickeln. Milliardenschwere Unternehmer aus dem Silicon Valley erklären, dass sie von klein auf durch die Lektüre von Science-Fiction inspiriert wurden.
Unterirdische Fiktion spielt auch eine Rolle
Science-Fiction fokussiert sich mehrheitlich auf den Weltraum, doch der unterirdische Raum spielt ebenfalls eine Rolle. Sehen wir unter die Erdoberfläche, entdecken wir das Teil-Genre „Subterrane Fiktion“. Hier sind also die Handlungen im Untergrund lokalisiert. Gehen wir in der Geschichte von Science-Fiction zurück, finden wir den Roman „The Time Machine“ („Die Zeit-maschine“) von H. G. Wells aus dem Jahr 1895. Er entwirft die Vision einer sehr weit entfernten Zukunft. Zwei Gesellschaften leben Seite an Seite – die eine über, die andere unter der Erde. Die Spezies auf der Erdoberfläche ist friedlich und fortschrittlich, die andere brutal und primitiv.
Im Gegensatz dazu beschreibt Edward Bulwer-Lytton in seinem 1871 erschie-nenen Roman „The Coming Race“ („Das kommende Geschlecht“) eine fortschrittliche unterirdische Gesellschaft. Der Film „Demolition Man“ („Demoli-tion Man – Ein eiskalter Bulle“) von 1993 greift das auf und ergänzt eine überraschende Wendung. Ins Jahr 2032 versetzt, zeigt er eine technologisch hochentwickelte Gesellschaft auf der Erde. In ihr herrscht allerdings ein totalitäres Regime, das alle Bürger überwacht und strenge Regeln durchsetzt. Die rebellische Gegengesellschaft, die in einem unterirdischen Höhlensystem lebt, genießt dagegen mehr Freiheiten, doch sie greift die an der Oberfläche lebenden Menschen an, um Lebensmittel zu erbeuten.
„Wenn düstere Untergrund-
Gesellschaften die dominierenden
kulturellen Repräsentationen
von unterirdischer Infrastruktur sind,
dürfte es sich lohnen, ein alternatives
fiktionales Szenario zu erarbeiten:
ein Szenario, in dem gesellschaftliches
Leben über und unter der Erdoberfläche
fusioniert.“
Offensichtlich wird Science-Fiction immer von einer zeitgenössischen Per-spektive auf die Zukunft geprägt. Jeanne DuPraus Roman „The City of Ember“ („Lauf gegen die Dunkelheit“) von 2003 spielt in ferner Zukunft in einer unterirdischen Stadt, die die Menschheit vor einer unbekannten Katastrophe auf der Erde schützen soll. In der Romanverfilmung, in der die Protagonisten versuchen, aus der Stadt zu fliehen, erkennen wir den schützenden Charakter des unterirdischen Zufluchtraums deutlich.
Hugh Howeys 2011 publizierte Kurzgeschichte „Wool“ („Silo“), die erste der gleichnamigen Reihe, beschreibt eine Zukunft, in der die Gesellschaft nur noch in riesigen Silos existiert, Hunderte von Stockwerken unter der Erde. Die Silos schützen ihre Bewohner vor der toxischen oberirdischen Umwelt. Obwohl das Dasein in den Silos reglementiert ist, ist es immer noch besser, als außerhalb zu leben. Die nachfolgende Fernsehserie „Silo“ wird seit Mai 2023 auf Apple TV gestreamt.
Angesichts der heutigen Diskussionen um Naturkatastrophen, Hitzewellen und Kriegsprävention können wir uns fragen, inwiefern Leben in unterirdischen Räumen seine Vorzüge hat. Was die skizzierten Science-Fiction-Geschichten gemeinsam haben: Sie trennen Menschen oberhalb und unterhalb der Erdoberfläche voneinander. Sie stellen unterirdische Gesellschaften düster dar, auch wenn gleichzeitig die Lebensbedingungen besser und sicherer sind als auf der Erde.
Die Wirkungsmacht von Science-Fiction nutzen
Wenn diese fiktiven Geschichten die dominierenden kulturellen Repräsentationen von unterirdischer Infrastruktur sind, dürfte es sich lohnen, ein alternatives fiktionales Szenario zu erarbeiten: ein Szenario, in dem gesellschaftliches Leben über und unter der Erdoberfläche fusioniert, beispielsweise mithilfe von liminalen Räumen, deren Formen, Ausdehnung nach oben und unten sowie Funktionen sich ändern lassen und die in Metropolen wie Helsinki und Paris bereits realisiert werden.
Ich denke, die Beschäftigung mit Science-Fiction ist genauso wertvoll wie die Lektüre von Trend- und Zukunftsanalysen oder wissenschaftliche Forschung. Science-Fiction bietet uns einen alternativen Ansatz, um die Zukunft zu antizipieren. Sie stellt unsere vorgefassten Annahmen über unsere Gegenwart und die Zukunft infrage. Ihre Geschichten und Bilder sind eine reichhaltige Quelle der Inspiration.
An fantastische Bilderwelten und unglaubliche Aktionen erinnern sich Menschen. Auch Science-Fiction-Geschichten bleiben länger im Gedächtnis haften als etwa der Inhalt eines informativen Merkblatts.
Wenn wir Science-Fiction-Geschichten lesen oder ansehen, entwickeln wir eine entscheidende neue Fähigkeit: das Science-Fiction-Denken. Es ist die Kunst, sich die Zukunft vorzustellen und sie zu antizipieren. Und gängige Vorstellungen von einer unsicheren, aber offenen Zukunft, in der alles möglich ist, infrage zu stellen. Vielmehr übersetzen wir mit Science-Fiction-Denken gewonnene Erkenntnisse in tragfähige Ergebnisse, um unsere Zukunft strategisch zu planen.
Prof. Dr. Jan Oliver Schwarz
ist Professor für Strategic Foresight und Trendanalyse an der Technischen Hochschule Ingolstadt. Zu Schwarz‘ Forschungsgebieten gehört, welche menschlichen Bedürfnisse und technologischen Trends sich aus Zukunftsdarstellungen in Science Fiction-Filmen und Literatur ableiten lassen. In seinem Buch "Strategic Foresight" erläutert er die wichtigsten Foresight-Prinzipien und wie Organisationen sie anwenden können.
Bildquelle Bühne: © MidJourney