Fortschritt

Denken wie ein Berg

Was haben Geologen und Astronomen gemeinsam? Beide kalkulieren mit sehr langen Zeiträumen. Von diesen Wissenschaften lässt sich deshalb lernen, unsere Welt mit mehr Weitblick zu gestalten. Für einen technologischen Fortschritt, der künftige Generationen mitdenkt.

In der Einöde der norwegischen Inselgruppe Spitzbergen führt der betonverstärkte Stollen eines alten Bergwerks in den Felsgrund. Als „Svalbard Global Seed Vault“ beherbergt er heute eine unterirdische Saatgutbank. Darin lagern bei minus 18 Grad Celsius rund eine Million Samenproben aller erdenklichen Kulturpflanzen. So sollen die biologischen Baupläne der Ackerfrüchte die Zeit überdauern – für den Fall globaler Öko-Katastrophen. Manche Arten halten im Permafrost bis zu 10.000 Jahre.

Die Planer haben unzählige Generationen in die Zukunft gedacht. Dabei ist, was in der jüngeren Geschichte als Fortschritt verkauft wird, kurzatmiger geworden. Technische Innovationen drängen immer schneller auf den Markt.

Das Prinzip Beschleunigung

Die ersten Schallplatten etwa, zunächst noch aus Schellack, kamen kurz vor Beginn des 20. Jahrhunderts auf. Rund achtzig Jahre vergingen, bis ihre Verdrängung durch die CD begann. Doch auch die CD-Sammlungen wanderten in den Keller, als 1998 die ersten tragbaren Abspielgeräte für MP3 erschienen. Bis zu digitalen Downloads waren kaum 20 Jahre vergangen. Und 2005, schon sieben Jahre später, begann das Streamen von Musiktiteln über das Internet. Heute erscheint das Abspeichern von MP3-Archiven auf Festplatten bereits altmodisch.

Die Geschichte des Automobils und vieler anderer Erfindungen ließe sich in ähnlichen, immer kürzeren Etappen erzählen. Solche Erschütterungen ganzer Branchen zwingen den Märkten eine „Disruption“ auf: eine sprunghafte Veränderung, die alles Bisherige über den Haufen wirft und für nichtig erklärt. Doch in einer Welt schwindender Ressourcen und existenzieller Bedrohung der Ökosysteme kann Disruption kein Fortschrittsideal sein.

Ein neues Bewusstsein

Jede Innovation baut auf Vorgängern auf: ohne Lilienthals Gleitflugzeug kein Motorflug der Gebrüder Wright, ohne motorisierte Fliegerei kein Düsenjäger von Heinkel, ohne Strahltriebwerk kein Raumflugzeug „SpaceShipTwo“ der Firma Virgin Galactic. Bahnbrechender Erfolg steht stets in einer Reihe technologischer Ahnen – und bis dato unbekannter Nachfahren. Im Bewusstsein dieser langen Zeitachse wird unsere Verantwortung für die Zukunft schlagartig klar.

Dies scheint dringend nötig im Anthropozän, dem Zeitalter in dem die Menschheit zur prägenden Kraft auf dem Planeten Erde geworden ist. Daran erinnern uns etwa Geologen, welche die Erdgeschichte in Epochen einteilen (siehe Grafik). Der amerikanische Astrophysiker und Autor Carl Sagan warnte vor einer „technologischen Adoleszenz“. Die Menschheit könne vor Kraft kaum laufen, verhalte sich aber kindisch und zerstörerisch. So untergraben wir Halbstarken nach und nach unsere eigene Existenz.

Die kostbarste Ressource

Es geht sicher am Ziel unseres hiesigen Überlebens vorbei, wenn sich ein „Weltraum-Unternehmer“ als Erlöser inszeniert und Kolonisten auf den Mars führen will. Dieses Gefühl beschleicht auch Laurie Winkless (siehe Interview). Die Physikerin und Wissenschaftsautorin, die sich in ihrem Buch „Science and the City“ mit einer lebenswerten Zukunft in Städten befasst, ist auf Egotrips von Tech-Gurus nicht gut zu sprechen: „Es macht mich so wütend. Da haben wir die Gelegenheit eine zukunftsfähige Infrastruktur für alle zu schaffen und Milliardäre machen sich bloß Gedanken über führerlose Autos.“

Zeit ist die wohl einzige Ressource, über die wir nicht beliebig verfügen können. Doch zum Glück können wir – mit technologischer Weitsicht – Zeit gewinnen, statt sie zu verspielen. Wir können sie nutzen, um den Dingen geduldig auf den Grund zu gehen, statt sie in einem Feuerwerk effektverliebter Spielereien verpuffen zu lassen. Ob Klimawandel, Trinkwassermangel, Müllteppiche im Ozean oder Energiekrisen: Die scheinbar uferlosen Probleme der Menschheit sind lösbar – wenn wir es schaffen umzudenken.

Von Felsen lernen

In ihrem Buch „Timefulness“ empfiehlt die amerikanische Geologin Marcia Bjornerud  Konzernen, Politikern und Planern „zu denken wie ein Berg“: Wir bräuchten wieder ein Bewusstsein für die langen Entwicklungslinien, wie sie nicht nur das Gestein verkörpere, sondern auch Naturvölker, die sich ihrer Ahnenkette und den Kindern der Zukunft verbunden fühlen. Wer denkt wie ein Berg, wird den Sinn und Zweck einer technischen Innovation daran messen, ob sie nachhaltig ist. Bjornerud schlägt eine Art „Ministerium für Zukunft“ vor, das die Interessen derjenigen vertritt, die noch nicht geboren sind.

Der Astrophysiker Martin Rees  sieht das ähnlich: An kosmischen Dimensionen geschult, plädiert auch er gegen die Hast in existenziellen Fragen. Angesichts unserer heutigen Schwierigkeiten auch nur zehn Jahre vorauszuplanen, bewundert der Wissenschaftler, „dass Menschen im Mittelalter Kathedralen gebaut haben, deren Fertigstellung hundert Jahre und länger gedauert hat“. Und dass sie heute noch stehen.

Langer Atem, neue Werte

In seinem Buch „On the Future“ diagnostiziert er, dass heute scheinbar weder Politiker noch Konzerne so viel Geduld aufbringen wollen. Mit Prämien oder Posten werde auf den Führungsetagen oft ein Denken in Quartalszeiträumen oder Wahlperioden belohnt. Alle darüber hinausreichenden Herausforderungen blendet solch ein hektischer Planungshorizont aus. Das Ergebnis ist kurzatmiger Fortschritt – echte Evolution sieht anders aus.

Rees ist keineswegs ein Fortschrittsgegner: Dass Armut und Elend weltweit trotz explodierender Weltbevölkerung zurückgegangen seien, „wäre ohne Wissenschaft und Technologie nicht möglich gewesen“, schreibt er. Um mit globalen Bedrohungen fertigzuwerden, bräuchten wir nicht weniger, sondern mehr Technologie – „geleitet von sozial verantwortlicher Wissenschaft und Ethik“.

Welche Lösungen aber kann solch ein nachhaltiges Entwicklungsdenken in der Praxis hervorbringen? Es könnte unseren von Klimaerwärmung und Platzmangel bedrohten Städten eine weitere Dimension hinzufügen.

Städte mit Tiefgang

Der französische Architekt und Stadtplaner Dominique Perrault nennt diese Dimension, der er ein ganzes Buch widmete, „Groundscapes“: ein bislang vernachlässigtes Raum-Potenzial, das im Untergrund der Metropolen schlummert. Unter der Erde ist dem Architekten zufolge nicht nur Platz für Zweckbauten wie Tiefgaragen oder Heizungszentralen. Vielmehr können dort Lebenswelten mit großer sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit entstehen. Daher geht Perrault in eng bebauten Städten in die Tiefe, statt kostbaren oberirdischen Raum zu verbrauchen.

Ein leuchtendes Beispiel dafür ist der Nahverkehrsbahnhof Villejuif Institut Gustave Roussy in Paris. Perrault verlegte dort Einkaufsebenen, Bahnsteige und Flanierbereiche bis zu 50 Meter unter die Erde. Dank ausgeklügelter Lenkung des Tageslichts unterscheidet sich das Raumgefühl kaum von oberirdischen Gebäuden. Die lösliche Grenze zwischen ober- und unterirdischem Leben ist für Perrault das Grundprinzip der Zukunftsstadt: „Man wird sich innerhalb von Strukturen bewegen, die aus mehreren Ebenen bestehen. Dabei wird es stets natürliches Licht, natürliche Belüftung und natürliche Bewegung geben.“

Ein Video von Dominique Perrault finden Sie hier.

Grenzen überwinden

Die Hoch- und Tiefbauebenen solcher Städte werden nicht mehr unterschiedlich erlebt, sondern verschmelzen zu einer einzigen „Substanz“, wie Perrault es nennt. Er vertritt die Vision einer Stadt, die sowohl ober- als auch unterirdisch mit Leben erfüllt ist: Der oberirdische Lebensraum dehnt sich konsequent unter die Erde aus und erweitert das Habitat der Stadtbewohner. Ein Konzept, das nicht nur wertvollen innerstädtischen Raum freilegt, sondern auch den ökonomischen Blick auf Infrastrukturprojekte verändert.

Zitat „Investitionen in unter- und überirdische Bauwerke lassen sich nicht mehr voneinander trennen, was zu völlig neuen Berechnungen der Wirtschaftlichkeit führen wird.“ Dominique Perrault, französischer Architekt und Stadtplaner

Wenn wir auch in den Megastädten des 21. und 22. Jahrhunderts noch Platz finden wollen, setzen wir besser unsere Phantasie in Bewegung. Das zukunftsorientierte „Denken wie ein Berg“ kann dafür ein Leitfaden sein – das gilt für ein altes norwegisches Bergwerk ebenso wie für die Tunnel unter den Straßen von Paris.

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Steffen Dubé President and General Manager Herrenknecht Tunnelling Systems USA Inc.
Gerhard Goisser Commercial Manager Herrenknecht Tunnelling Systems USA, Inc.